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Was ist Wahrheit?

Wir leben in einer Welt, in der das Verbreiten von Unwahrheiten und Lügen an der Tagesordnung steht. In einer Welt, in der wir nicht mehr wissen, wem wir noch Glauben schenken können, in der wir einander immer weniger Vertrauen. Das folgende Bild sagt es eigentlich schon aus: Was wie die Wahrheit erscheint, ist eine Spiegelung im Wasser, die ich in Québec, Kanada fotografiert habe. Und all das wegen diesem kleinen Freund, der sich manchmal ganz schön gut tarnen kann: Der Wahrheit.



Die Suche nach „der einen“ Wahrheit gibt es, seit es Menschen gibt. Schon seit Jahrtausenden hat unsere Spezies versucht zu ergründen, was „richtig“ und was „falsch“ ist – ohne zu einem eindeutigen Ergebnis zu gelangen. Die zufriedensten Menschen waren stets die, die für sich selbst glaubten, „die“ Wahrheit zu kennen – und Kriege entstanden immer dann, wenn zwei unterschiedliche „Wahrheiten“ aufeinandertrafen.


Du siehst, ich arbeite viel mit Anführungszeichen – das liegt einfach daran, dass ich nur über das berichte, was ich wahrnehme, und mir selbst nicht anmaße, die Wahrheit zu kennen. Im Folgenden möchte ich einige meiner Überlegungen mit dir teilen, ob es Wahrheit gibt und wie man sie finden und von Unwahrheiten unterscheiden könnte.



Die 6 Stufen der Wahrheit


In langer Überlegung habe ich versucht, das Spektrum zwischen Lüge und Wahrheit in sechs Stufen zu unterteilen, wobei eine Sache umso eher „wahr“ wird, je höher ihre Stufe ist:


Dinge, die nicht wahr sind:


Stufe 1 - Lüge „Das Produkt hat keinerlei Nebenwirkungen!“

Ich verbreite eine Unwahrheit, obwohl mit bewusst ist, dass die Aussage nicht stimmt.


Stufe 2 - Unwahrheit „Die Erde ist eine Scheibe!“

Ich verbreite eine Unwahrheit, jedoch in der begründeten Annahme, dass sie richtig ist.


Dinge, die möglicherweise wahr sind:


Stufe 3 - Wahrnehmung „Du bist ein wunderschöner Mensch!“

Die Aussage ist aus meiner Perspektive wahr, jedoch gilt die Wahrheit nur für mich selbst.


Stufe 4 - Wahr-Schein-Lichkeit „Der Zug fährt um 9:35 Uhr ab!“

Wissenschaftliche Erkenntnisse oder feste Regeln scheinen wahr zu sein – es kann jedoch immer zu Ausnahmen kommen.


Dinge, die wahr sind:


Stufe 5 - Relative Wahrheit „Das Glas ist halb voll mit Wasser!“

Eine Wahrheit, die nur im jeweiligen Kontext stimmt (also nicht für alle Gläser in allen Situationen, sondern dieses Glas in diesem Moment).


Stufe 6: Absolute Wahrheit „Der menschliche Körper benötigt Sauerstoff, um zu leben!“

Eine Wahrheit, die objektiv gesehen unwiderlegbar richtig ist und in jedem Fall stimmt.


Wie du vielleicht gemerkt hast, verwendest du selbst einige dieser Begriffe wie „Wahrscheinlichkeit“ oder „Lüge“ anders, als ich das hier tue. Und genau das ist es, was zwischenmenschliche Kommunikation so schwierig macht:


Da dieselben Worte für uns andere Bedeutungen haben, nehmen wir Menschen auf Basis UNSERER Bedeutungen wahr, nicht auf Basis ihrer eigenen!

Mit diesen Stufen im Hinterkopf widmen wir uns nun der spannenden Frage:


Gibt es so etwas wie Wahrheit?



Mal angenommen, es gibt die eine Wahrheit…


Gehen wir davon aus, dass es eine absolute Wahrheit gibt, das heißt, im Grunde genommen steht fest, wie die Welt wirklich ist. Der einzige Haken an der Sache: Wie finden wir heraus, was wahr ist?


  • Durch Hinterfragen.

Wir suchen aktiv nach Argumenten und Beweisen, die eine Sache widerlegen. Durch das Hinterfragen können wir vermeiden, dass wir eine Aussage der Stufen 1 und 2, also eine Lüge / Unwahrheit glauben.


  • Durch Perspektivwechsel

Unsere Beobachtung ist leider sehr fehleranfällig – man denke nur an optische Täuschungen, die unserer Wahrnehmung einen Streich spielen. Um uns nicht Stufe 3, also der Wahrnehmung, hinzugeben, dürfen wir den Blickwinkel vieler anderer Menschen einnehmen und versuchen, die Welt aus ihren Augen zu sehen, um herauszufinden: Nehme nur ich die Sache so wahr, oder ist sie wirklich so?


  • Durch Falsifizierung

Um uns nicht in Stufe 4, der Wahrscheinlichkeit, zu verlieren, dürfen wir aktiv versuchen, Gegenargumente zu finden. Verhält sich der Mensch IMMER so, oder ist es nur der aktuelle Stand der Forschung? Kommt der Zug immer pünktlich, oder kann er auch Verspätung haben? Wenn es uns gelingt, eine Wahrscheinlichkeit zu widerlegen, haben wir erfolgreich gezeigt: Es ist keine absolute Wahrheit!


Die ersten vier Stufen sind relativ leicht zu widerlegen. Schwierig wird es nun, da wir uns mit Dingen beschäftigen, die eigentlich wahr sind – nur manche von ihnen eben nicht in jeder Situation. Wie finden wir also heraus, was absolut wahr ist?


  • Durch Wiederholung und Erfahrung

Beißen wir zum Beispiel 1000x in einen Apfel und nehmen ihn als süß wahr – IST er dann süß, oder liegt es nur daran, dass wir Süße wahrnehmen können? Gibt es vielleicht noch andere Geschmackssinne als die menschlichen? Die Kunst liegt darin, festzustellen, ob eine Sache in DIESER Situation oder in JEDER Situation wahr ist. Dass der Apfel süß ist, erklärt nur Stufe 5, die relative Wahrheit.


Absolute Wahrheit kann in meinen Augen (meiner Wahr-Nehmung) nur gegeben sein, wenn alle anderen Formen der Wahrheit widerlegt sind. Wenn ich also bewiesen habe, dass etwas zumindest eine relative Wahrheit ist und es auch in jedem einzelnen von vielen Fällen eingetreten ist. Die Schwerkraft ist so ein Phänomen. Im Grund ist sie dadurch bewiesen, dass es nichts auf unserer Erde gibt, was ihre Abwesenheit beweist, was ihre Existenz zu einer absoluten Wahrheit macht.


Kritiker würden jetzt sagen, sie sei nicht auf allen Planeten vorhanden, was sie zu einer relativen Wahrheit macht. Vorsicht: Ich habe nicht gesagt: „Schwerkraft ist überall“, sondern „Schwerkraft existiert wirklich“. Das stimmt – und sie muss nicht überall sein, damit es sie gibt!


So würden wir uns Verhalten, wenn wir sicher sein könnten: Es gibt die absolute Wahrheit. Die Herausforderung ist allerdings, dass wir gerade NICHT wissen, ob es sie gibt, da wir die Existenz der Wahrheit mit der Wahrheit selbst beweisen müssen – und wir eine Existenz nicht mit sich selbst beweisen können. Es besteht also die Möglichkeit, dass es nicht „die eine“ Wahrheit gibt…



Mal angenommen, es gibt nicht „die“ Wahrheit…


Was bedeutet es für unser Leben, zu wissen, dass es nicht „die“ Wahrheit gibt? Bereits Sokrates sprach die folgenden berühmten Worte:


Ich weiß, dass ich nichts weiß.

Wir wissen also eigentlich gar nichts. Was bleibt uns also am Ende des Tages noch übrig?


Unsere Gefühle.


Mit Gefühlen meine ich das, was wir in diesem Moment spüren. Dieses unverfälschte Gefühl von Angst, diese wilde, rasende Wut, diese Freude, wenn wir einem Baby in die Augen blicken, diese Trauer, die wir verspüren, wenn ein geliebter Mensch von uns geht.


Unsere Gefühle in ihrer reinsten Form sind nicht manipulierbar.

Unsere Emotionen – angestaute, unterdrückte Gefühle – können allerdings durchaus von anderen Menschen beeinflusst werden, ebenso wie unser Wissen. Auf der Suche nach Wahrheit in einer unwahren Welt können wir also nur auf das Vertrauen, was nicht manipuliert ist.


Und unsere Gefühle sind erst der Anfang. Denn wenn meine Gefühle wahr sind, dann kann ich auch nach ihnen Leben und das ausdrücken, was ich fühle. Das ist es, was man Authentizität nennt – ein Mensch, der in der Lage ist, er selbst zu sein. Ein fantastischer Weg, um der Unwahrheit entgegenzuwirken ist es, dich zu zeigen, wie du wirklich bist – denn nur das ist wahr.


Ein anderer Weg ist es – und diese Worte mögen zunächst ausgelutscht klingen – im Hier und Jetzt zu leben. Doch nicht auf eine spirituelle Art und Weise, sondern einzig und allein deswegen:


Unser Verstand kann manipuliert sein. Vergangenheit und Zukunft existieren nur in unserem Verstand. Also können auch unsere Vergangenheit und unsere Zukunft manipuliert sein.

In meinen Augen liegt der Grund, warum alle spirituellen Lehrer ihren Fokus auf die Gegenwart lenken, darin, dass sie das Einzige ist, was unverfälscht sein kann, da nur die Gegenwart ohne den manipulierbaren Verstand und mit unseren Gefühlen erlebt werden kann.


Sollte es also keine absolute Wahrheit geben, so wisse:


Hör auf das Gefühl, welches du JETZT empfindest. Es ist frei von Unwahrheit.

Natürlich kann der Verstand dennoch genutzt werden, um dem Gefühl Bedeutung zu geben – wovor habe ich Angst? Warum verspüre ich Freude? Kann ich dieses Gefühl wiederholen? Doch sei dir stets bewusst, dass jeder Akt des Denkens auch mit einer gewissen Unwahrheit einher gehen kann.



Mal angenommen, wir kennen die Wahrheit…


Selbst, wenn es die absolute Wahrheit gäbe und wir sie kennen würden, stellt sich eine weitere, essenzielle Frage:


Können wir Menschen die Wahrheit überhaupt annehmen?


Eine Wahrscheinlichkeit nicht als Wahrheit zu existieren, zeugt von Weisheit und der Fähigkeit, „wahr“ von „teilweise wahr“ zu unterscheiden. Doch selbst in Anbetracht einer relativen Wahrheit weigern sich Menschen häufig, diese anzunehmen. Ein Beispiel gefällig?


Ich halte mich selbst für einen gesunden Menschen, der seinem Körper nur Gutes tut. Doch wie es das Schicksal so will, sitze ich im Restaurant vor der Speisekarte und entscheide mich spontan für einen saftigen, vollgeladenen Burger mit Pommes. Erst später wird mir bewusst, was ich eigentlich getan habe.


Es handelt sich hier um ein Phänomen der Sozialpsychologie, welches als Kognitive Dissonanz bezeichnet wird. Sie tritt immer dann auf, wenn unser tatsächliches Handeln unserem Selbstbild widerspricht. In diesem Fall widerspricht mein Selbstbild, ich bin gesund, meinem tatsächlichen Handeln, ich esse einen fettigen Burger. In solchen Fällen haben wir drei Möglichkeiten, die Dissonanz aufzulösen:


  1. Wir ändern unser Selbstbild. Vielleicht esse ich doch nicht so gesund. Dies erfordert viel Stärke und Selbstbewusstsein und wird in den seltensten Fällen getan. Anschließend entsprechen wir jedoch unserem neuen Selbstbild.

  2. Wir ändern unser Verhalten. In Zukunft esse ich nicht mehr so ungesund. So sorgen wir dafür, wieder unserem Selbstbild zu entsprechen.

  3. Wir erschaffen neue, alternative Erklärungen. Es war ja nur einmal. Es lag sicher am Gruppenzwang. Der Burger ist ja gar nicht sooo ungesund. Dies ist gefährlich, da wir Menschen auf diese Weise in den meisten Fällen auch unser nicht so gutes Verhalten rechtfertigen.


Wir können die Wahrheit also häufig nicht annehmen, da sie unserem Selbst- und Weltbild widerspricht.

Selbst, wenn alle Beweise gegen uns sprechen, werden wir eher an unserer Weltsicht festhalten, als zuzugeben, dass wir falsch liegen.


Ein weiterer Grund, warum wir nicht gut darin sind die Wahrheit anzunehmen, ist Angst.


Angst vor Veränderung bringt Menschen dazu, Scheinwahrheiten zu glauben.

In einer Welt die sich so rasant verändert wie die unsere, wird es zunehmend schwer, mit der Veränderung mitzuhalten, das spüren wir alle. Und wir müssen es auch gar nicht, denn die meisten Veränderungen sind zu schnell für uns. Verspüren wir allerdings doch das Gefühl, es zu müssen, verstecken wir uns häufig in Scheinwelten, die die eigentliche, harte und schmerzliche Wahrheit verstecken sollen.


Hollywood-Giganten wie die Walt Disney Company, Streamingdienste wie Netflix und Anbieter von Luxusreisen sind Spezialisten auf dem Gebiet, Menschen in andere Welten abtauchen zu lassen, sodass sie der Verantwortung entfliehen können, sich mit der Wahrheit zu beschäftigen. Denn sind wir mal ehrlich:


Die Wahrheit kann uns ungeheure Angst machen.

Doch ist es nicht viel schlimmer, eines Tages aufzuwachen und zu sehen, dass wir die Wahrheit nicht länger ignorieren können? Im jetzigen Moment mag eine ungesunde Lebensweise nicht weiter schlimm sein, doch auf die lange Sicht wird der Punkt kommen, an dem wir unsere gesundheitlichen Schäden nicht länger ignorieren können und uns der Wahrheit stellen müssen.


Unsere Gesellschaft strebt nach Komfort, nicht nach Wahrheit.

Ein komfortables Leben ist angenehm, keine Frage, und in unserer pupswarmen Komfortzone lässt es sich locker und unbeschwert leben – aber ist es wirklich das, was wir wollen? Es erfordert Mut, sich der Wahrheit zu stellen – doch nur so können wir eine Welt erschaffen, die nicht ein einziges Konstrukt aus Lügen und Unwahrheiten ist.



Ein Gedanke zum Schluss


Ob es jetzt die Wahrheit gibt oder nicht, ob wir sie kennen oder nicht – eine Sache können wir ganz klar tun, um mehr Wahrheit in unsere Welt zu setzen. Denn wenn du dich an die 6 Stufen vom Anfang erinnerst, merkst du, wie hilfreich es sein kann, zu unterscheiden: Sagt mein Gegenüber gerade die Wahrheit – oder ist es nur seine Wahrnehmung? Oder vielleicht sogar eine Unwahrheit?


Versteh mich nicht falsch: Wir alle können uns irren, wir tun es täglich, stündlich, vielleicht sogar in diesem Moment.


Was zählt ist nur, ob wir zu unserer Unwissenheit stehen oder nicht.

Wenn ein Experte seine Entscheidung öffentlich begründet und mit den Worten abschließt: „Es handelt sich nur um unseren jetzigen Wissensstand, und möglicherweise tauchen unvorhergesehene Ereignisse auf, sodass wir unsere Haltung überdenken müssen“ – dann ist dies der Ausdruck einer Wahrscheinlichkeit (Stufe 4), die offen und ehrlich zugegeben wird.


Genauso ist es mit Unwahrheiten. In dem Moment, in dem wir zugeben, uns nicht sicher zu sein, nehmen wir uns den Anspruch auf Wahrheit und ermöglichen eine ehrliche Kommunikation.


Spannung entsteht nur dann, wenn ich meine Wahrnehmung als Wahrheit verkaufe.

Ich setze mich für eine Welt ein, in der wir emotional aufrichtig miteinander umgehen. Darum möchte ich dir zum Schluss noch eine kleine Checkliste mit auf den Weg geben, um Unwahrheiten, Lügen und mitgeteilte Wahrnehmung zu erkennen, die uns als Wahrheit verkauft werden. Sollte einer der folgenden Punkte zutreffen: Vorsicht, es ist vermutlich keine absolute oder relative Wahrheit!


  • Ist eine Aussage emotional aufgeladen?

  • Wird eine starke Polarisierung/Meinungsbildung betrieben?

  • Wird die Welt vereinfacht (Schwarz/Weiß) dargestellt, obwohl es auch Grautöne gibt?

  • Wird alles mit einer einzigen Ursache begründet?

  • Werden falsche logische Schlüsse gezogen? Ein Beispiel hierzu: Logisch richtig wäre: Wenn ich mit dem Stift schreibe, wird das Papier schwarz. Ich schreibe mit dem Stift. Also ist das Papier schwarz. Logisch falsch wäre: Das Papier ist schwarz. Also schreibe ich mit dem Stift. Es kann schließlich auch andere Gründe für die Schwärze geben.

  • Wird stark verallgemeinert? Das ist immer so! Es gibt nur solche Menschen! Alle Objekte sind so!

  • Behauptet die Person, die absolute Wahrheit zu kennen?


Zu guter Letzt: Lasst uns einander auf Augenhöhe begegnen. Moralisch überlegen, was in diesem Moment wirklich wahr ist. Den Mut besitzen, Unwahrheiten aufzudecken. Nicht alles zu glauben, was uns Menschen erzählen. Vor allem nichts als absolute Wahrheit zu akzeptieren – von einigen Naturgesetzen einmal abgesehen. Lasst uns eine friedvolle, ehrliche Welt schaffen, in der kein Raum für Lügen und Unwahrheiten besteht, und in der neues Vertrauen wachsen kann.


Eine Sache ist wahr – nämlich, dass ich in diesem Moment tiefe Dankbarkeit verspüre, dass ich diese Gedanken mit dir teilen darf.


Lass uns die Wahrheit leben!





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